Jede Transplantation birgt neben dem grundsätzlichen immunologischen Risiko einer Abstoßung auch Risiken im Hinblick auf die potenzielle Übertragung von malignen Erkrankungen, Infektionskrankheiten, genetisch bedingten Erkrankungen oder toxischen Schädigungen.
Ziel der Spendercharakterisierung ist es, diese gesundheitlichen Risiken durch Beschreibung und Einhaltung notwendiger Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Organ- und Spendercharakterisierung für den Empfänger so gering wie möglich zu halten.
8.1 Zeitpunkt der Untersuchung
Die Organ- und Spendercharakterisierung ist ein stufenweiser Prozess. Befunde, welche vor der Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls im Rahmen der Behandlung des Patienten erhoben wurden, können und sollten zur Organ- und Spendercharakterisierung hinzugezogen werden. Generell sind bei der Beurteilung der jeweiligen Organfunktion die zum Zeitpunkt der Befunderhebung vorliegenden Umstände sowie etwaige im Rahmen der Intensivtherapie durchgeführte Maßnahmen zu berücksichtigen. Gegebenenfalls kann eine Wiederholung der Untersuchung angezeigt sein.
Die Erhebung der Anamnese, die körperliche Untersuchung sowie eine Reihe von weiteren Laboruntersuchungen und apparativen Diagnostiken stellen die Basis der Organ- und Spendercharakterisierung dar.
Materialien
Die erhobenen Befunde dienen als medizinische Entscheidungsgrundlage für:
- weiterführende diagnostische Maßnahmen
- den Umfang der Organspende
- den Empfängerschutz
- die Allokation
- die Akzeptanz des vermittelten Organs
Sowohl die Befunde, die im Verlauf der Behandlung der Grunderkrankung erhoben wurden, als auch die Befunde, die gezielt im Rahmen der Vorbereitung einer Organspende nach Feststellung des Todes ergänzt wurden, sind maßgeblich. Da im Bereitschaftsdienst oft nicht mehr alle der aufgeführten Laborbestimmungen und apparativen Untersuchungstechniken möglich sind, sollte der diagnostische Umfang frühestmöglich, z.B. im Rahmen der allgemeinen Beratung mit der DSO besprochen werden.
HINWEIS
Maßnahmen, welche ausschließlich der Vorbereitung einer Organentnahme (z.B. Blutentnahmen oder sonstige invasive Maßnahmen) dienen, dürfen erst und nur dann vorgenommen werden, wenn der irreversible Hirnfunktionsausfall festgestellt worden ist und eine Zustimmung zur Organentnahme vorliegt.
8.2 Anamnese
In der Regel handelt es sich um eine Fremdanamnese mit Hilfe der Angehörigen und des Hausarztes des Verstorbenen, die durch weitergehende Informationen der vorbehandelnden Ärzte ergänzt werden sollte.
Es sollte immer der Kontakt zum Hausarzt hergestellt werden, weil die Anamnese mit den Angehörigen eine Laienbefragung darstellt.
Da der Hausarzt in der Regel nur zu den regulären Geschäftszeiten zu erreichen ist, ist es wichtig, diesen frühzeitig zu kontaktieren.
Die Anamnese erfasst:
- Vorerkrankungen/Voroperationen
insbesondere Diabetes, Bluthochdruck, Koronare Herzerkrankung, Infektions- und Tumorerkrankungen, Erkrankungen des Nervensystems/neurologische und psychiatrische Erkrankungen, Allergien, atopische Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Voroperationen inklusive Details zu Diagnose und Histologie, Bluterkrankungen/Blutgerinnungsstörungen
COVID-19 oder SARS-CoV-2-Virus-Nachweis*
Andere Infektionskrankheiten (z.B. Malaria, Affenpocken)*
die bisherige ärztliche Behandlung
- Medikamente/Substanzen
- Auffälligkeiten in den letzten Monaten (B-Symptomatik)
- Zugehörigkeit zu Risikogruppen (HIV/HBV/HCV)
- Sexarbeit (in den letzten 12 Monaten)*
- häufig wechselnde Sexualpartner (in den letzten 12 Monaten)*
- Sexualpartner mit einer Person, die mit HIV, HBV oder HCV infiziert ist oder eine der hier genannten Verhaltensweisen aufweist (in den letzten 12 Monaten)*
- Aufenthalt in Strafanstalt (in den letzten 12 Monaten)*
- Sexualverkehr zwischen Männern (MSM) mit einem Sexualpartner oder mehr als einem Sexualpartner (in den letzten 12 Monaten)*
- Kinder HIV-positiver oder -gefährdeter Mütter (< 18 Monate alt oder in den letzten 12 Monaten gestillt)*
- Langzeitaufenthalt in Gebieten mit hoher HIV-, HBV- oder HCV-Prävalenz oder Sexualverkehr mit einer Person, die von dort eingereist ist (in den letzten 12 Monaten)*
- enger Kontakt innerhalb einer häuslichen Lebensgemeinschaft mit dem Risiko einer Infektion mit HIV, HBV oder HCV (in den letzten 12 Monaten)*
- Aufenthalt (in den letzten 3 Monaten) bzw. Zuwanderung von außerhalb der Bundesrepublik Deutschland
Für die Einschätzung eines möglichen Transmissionsrisikos ist es von Bedeutung, ob in den letzten 3 Monaten ein Aufenthalt außerhalb von Deutschland stattgefunden hat, da dann mit einem anderen Erregerspektrum gerechnet werden muss. Dieses Risiko muss durch die Dynamik der Ausbreitung von Infektionen bedingt durch die Klimaveränderung stetig neu bewertet werden (z.B. West Nile Fever).
- Impfanamnese
Impfungen mit Lebendvakzinen können im potenziellen Spender noch 4 Wochen nach erfolgter Impfung virulent sein und daher mit Organen und Geweben übertragen werden.
- Varizellen
- Masern
- Mumps
- Röteln
- Pocken
- Gelbfieber
- Influenza (falls inhaliert)
- Salmonella typhi (falls oral)
- Rotavirus
- Bacillus Calmette-Guerin (BCG)
- Cholera (falls oral)
- Polio (falls oral)
Zusätzlich zu den bekannten Lebendimpfstoffen ist der SARS-CoV-2-Impfstatus zu erfragen (Datum, Impfstoff) sowie eventuelle Komplikationen, die sich aus der Impfung ergeben haben.
- Vorliegen multiresistenter Keime
- Tierbiss/-verletzung
- Anhaltspunkte für eine Schwangerschaft
Die Erhebung und Dokumentation der anamnestischen Daten erfolgt mittels des hierfür entwickelten Fragebogens (s. Materialien: Spender-Anamnesebogen).
*Auswahl ja/nein/unbekannt
8.3 Körperliche Untersuchung
Bei der orientierenden körperlichen Untersuchung werden auffällige Hautbefunde (Narben, Tumorverdacht, Tätowierungen, Piercings, nicht medizinisch erklärbare Einstichstellen), Lymphknoten (Hals, Achseln, Leisten) sowie der übrige körperliche Befund erfasst.
Die Dokumentation der körperlichen Untersuchung erfolgt mittels des hierfür entwickelten Befundbogens
(s. Materialien: Orientierende körperliche Untersuchung).
Soweit die Anamnese und körperliche Untersuchung nicht durch einen ärztlichen DSO-Koordinator vorgenommen werden kann, ist sie durch einen Arzt des Krankenhauses durchzuführen. Dieser wird hierbei durch den DSO-Koordinator unterstützt. Die Befunde sind zu dokumentieren und der Koordinierungsstelle (DSO) zur Verfügung zu stellen (s. Materialien: Befunderhebung).
Ergeben sich aufgrund der Anamnese, der körperlichen Untersuchung, vorliegender Befunde oder des aktuellen Krankheitsverlaufs Hinweise auf besondere, spenderassoziierte Risiken, sind diese durch entsprechende Zusatzuntersuchungen in Zusammenarbeit mit dem DSO-Koordinator abzuklären.
8.4 Labor
8.4.1 Organisation durch Krankenhaus:
- Blutgruppe (serologische Blutgruppenbestimmung und Bedside-Test)
- arterielle Blutgase unter optimalen Beatmungsparametern (mit Messung bei aktuellem FiO2 und FiO2 1,0 über 10 Minuten), z.B. aus der Präoxygenierungsphase des Apnoetests
- Blutbild, evtl. Differentialblutbild falls automatisch gemessen verfügbar
- Blutzucker
- Urinstatus (inklusive Ausschluss Proteinurie) und -sediment
- Klinische Chemie
- Natrium
- Kalium
- Kreatinin i. S.
- Harnstoff i. S.
- Amylase
- Lipase
- HbA1c
- alkalische Phosphatase
- ASAT (GOT)
- ALAT (GPT)
- γ-GT
- Bilirubin (total und direkt)
- LDH
- CK
- CK-MB oder Troponin T/I
- Albumin/Gesamtprotein
- Quick
- PTT, INR
- Fibrinogen/AT III
- C-reaktives Protein (CRP), Procalcitonin
8.4.2 Organisation durch Koordinierungsstelle (DSO)
Gewebetypisierung: Für die Organallokation sind Bestimmungen der Gewebemerkmale zwischen Spender und Empfänger erforderlich. Die hierfür notwendigen Untersuchungen beim Spender werden nach abschließender Todesfeststellung und Einwilligung zur Organspende durch die Koordinierungsstelle (DSO) in dafür zugelassenen Laboren beauftragt.
8.5 Infektionsdiagnostik
Zum Empfängerschutz ist eine sorgfältige Infektionsdiagnostik beim Organspender obligat. Die DSO unterstützt das Krankenhaus bei der Organisation erforderlicher infektiologischer Untersuchungen, die im Rahmen der Organspende veranlasst werden müssen (z.B. Blutkultur, Trachealsekret).
Bei allen Spendern muss mittels Nukleinsäure-Amplifikations-Technik (NAT) ein Nasen-/Rachenabstrich bezüglich einer SARS-CoV-2-Infektion untersucht werden. Diese darf zum Zeitpunkt der Meldung an ET nicht länger als 72 Stunden zurückliegen. Ist die Lunge für eine Transplantation geeignet, sollte eine zweite Untersuchung auf SARS-CoV-2 aus den unteren Atemwegen erfolgen, idealerweise aus einer BAL. Auch bei positivem SARS-CoV-2-Befund ist eine Organspende in ausgewählten Fällen möglich und sollte mit der regionalen DSO besprochen werden.
Lesen Sie hier die "Empfehlungen der Bundesärztekammer zur Organspende bei positivem SARS-CoV-2-Befund des potenziellen Spenders".
Gesondert wird durch die Koordinierungsstelle eine weiterführende infektiologische Diagnostik im Referenzlabor veranlasst. Vor der Meldung der zur Transplantation geeigneten Organe erfolgt bei allen Spendern die serologische Bestimmung von Anti-HIV 1 und 2 incl. HIV-p24 Antigen, HBsAG, Anti-HBc, Anti-HCV und Anti-CMV. Weist der Spender ein Risikoprofil für eine HIV-, Hepatitis C-Erkrankung auf, wird vor der Organexplantation zusätzlich eine NAT zum Ausschluss einer Infektion im diagnostischen Fenster durchgeführt.
Bei Spendern, die Anti-HBc positiv und HBsAg negativ getestet werden, hat eine Anti-HBs-Bestimmung sowie eine HBV-NAT-Bestimmung zu erfolgen, um eine aktive Infektion mit höhergradiger Virämie nicht zu übersehen.
Zeitnah nach einer realisierten Organspende werden Antikörper gegen EBV, Toxoplasmose und Treponema pallidum (Lues) bestimmt, um gegebenenfalls eine präemptive Therapie bei den Empfängern einzuleiten.
Des Weiteren wird das Spenderblut nach stattgehabter Organentnahme vom Referenzlabor – sofern nicht bereits vor Entnahme geschehen – mittels NAT auf eine Infektion mit HCV und HEV getestet.
8.6 Befunde aus apparativer Diagnostik
Bei jedem Verstorbenen ist folgende apparative Diagnostik durchzuführen, sofern nicht bereits aktuelle Vorbefunde gegebenenfalls auch in Form eines CTs oder MRTs vorliegen:
- Röntgen Thorax (1m Abstand)
- Ultraschall des Abdomen
- 12-Kanal-EKG
Abhängig davon, welche Organe entnommen werden sollen, ist folgende Zusatzdiagnostik durchzuführen:
- Echokardiographie, gegebenenfalls transösophageal
- Bronchoskopie (diese kann gegebenenfalls auch im Rahmen der Organentnahme durchgeführt werden)
Die Dokumentation der Untersuchungsergebnisse erfolgt mittels der hierfür entwickelten Befundbögen für Sonographie, Echokardiographie und Bronchoskopie. Wenn gewünscht, kann die Dokumentation direkt elektronisch in die vom DSO-Koordinator zu Verfügung gestellten
DSO.isys web-Formulare erfolgen, die dann digital in das
DSO.isys web-Programm übertragen werden. So werden Übertragungsfehler von z.B. handschriftlich ausgefüllten Befundbögen vermieden, genauso wie Nachfragen, da auf den Befundbögen alle für eine Spende relevante Daten abgefragt werden (s. Materialien).
8.7 Weiterführende Untersuchungen
Ergibt sich aufgrund der Ergebnisse der vorgenannten Untersuchungen nach Beurteilung des DSO-Koordinators – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Arztes des Entnahmekrankenhauses und/oder des Transplantationszentrums – die Notwendigkeit weitergehender diagnostischer Maßnahmen (z.B. MRT/CT/Koronarangiographie), so führt das Krankenhaus diese Zusatzdiagnostik auf Anfrage durch die Koordinierungsstelle (DSO) durch.
Jeder auffällige Befund, bei dem der V.a. Malignität oder eine übertragbare Infektionskrankheit besteht bzw. diese nicht ausgeschlossen werden, muss, soweit möglich, mit weiterführender Diagnostik abgeklärt werden, um eine entsprechende Empfängersicherheit gewährleisten zu können. Werden z.B. in der Sonographie des Abdomens in der Leber hypodense Areale beschrieben, die nicht sicher einem benignen Geschehen zuordenbar sind, muss z.B. mittels eines Kontrastmittel-CTs des Abdomens weitere diagnostische Sicherheit zum Ausschluss von Malignität angestrebt werden.
Die dabei erhobenen Befunde sind zu dokumentieren und dem DSO-Koordinator zur Verfügung zu stellen. Kann eine apparative Untersuchung aufgrund der Infrastruktur des Entnahmekrankenhauses nicht durchgeführt werden, muss eine Einzelfallentscheidung durch den DSO-Koordinator bezüglich der weiteren Vorgehensweise getroffen werden.